Deutscher Soldat freundet sich im Rahmen des Russlandfeldzuges mit russischer Familie an
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Tacitus -
September 20, 2011 at 12:35 PM -
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"Noch immer liege ich in Schelepowa im Quartier. Das Wetter ist in den letzten Wochen wieder recht unbeständig gewesen, wie ich schon kurz schrieb. Kalt ist es jedoch nicht mehr, und das ist ja die Hauptsache, lediglich noch öfters naß; denn es regnet jetzt viel. Ich glaube, der Mai muß noch vorbei sein, ehe ein beständigeres schönes Wetter einsetzt. Wie ich ebenfalls schon kurz berichtete, habe ich vor ein paar Tagen eine kleine Reise unternommen. Unser Spieß [?] wurde „nach vorn“ zur Kampfeinheit gerufen, um dort dringenden „schriftlichen Kram“ zu erledigen. Ich schloß mich ihm an, da ich etwas von Studienurlaub gehört hatte. Doch es war bereits wieder zu spät, der Termin war schon gewesen. Unverrichteter Sache fuhr ich also wieder „nach Hause“. Es ist sehr interessant, jetzt mit der Eisenbahn zu fahren. Ich fuhr über Sytschewka nach Rshew, übernachtete dort im Quartier unseres „Postsortierers“ auf dem Feldpostamt (er sortiert die ankommende Post in die, die „nach vorn“ und die, die „nach hinten“ geht, sonst bekämen wir hier überhaupt keine Post zu sehen) und fuhr am nächsten Tag (noch auf russischer Spur) noch ca. 60 km von Rshew aus genau nach Westen bis Ollnino [?], einem ganz kleinen Städtchen und mußte von da noch über vier Dörfer zu Fuß laufen, bis ich am Ziel war. Rückwärts war es dann genau so.
Immer noch weiß niemand, was mit uns noch einmal werden wird. Nun hat ja die diesjährige Offensive auf der Halbinsel Kertsch bereits wieder begonnen, und auch an unserer Front wird es nicht mehr allzulange dauern, bis es wieder losgeht. Vielleicht werden wir diesmal nicht gebraucht?
Nun, komme es, wie's will, im Augenblick fühle ich mich in meinem, dem besten aller bisherigen russischen Quartiere und dem besten mit des Dorfes, noch ganz wohl. 9 Wochen wohne ich nun schon bei meinem Iwan, nachdem ich vorher 6 Wochen in einem weitaus schlechteren Quartier gelegen hatte (dem Haus nebenan). Der eigentliche Hausbesitzer ist, wie fast in jedem Haus, nicht vorhanden. Als russischer Soldat ist er bei Kiew in deutsche Gefangenschaft geraten. Dafür hat sein Schwiegervater, der 65 Jahre alte, aber noch sehr rüstige Iwan, dem das Haus schräg gegenüber gehört, das Amt des „Haushaltungsvorstandes“ übernommen, damit seine Tochter Alexandra (ger. Schura) (29 J.) mit ihren beiden Kindern, dem Jungen Anatolee (ger. Doale) (5 J.) u. Dem niedlichen kleinen Mädchen Sinaida (ger. Sina) (3 J.) nicht allein ist. Iwan ist der Mann im Dorf; denn er spricht ziemlich gut deutsch. Er war 4 Jahre und 2 Monate, von 1914 – 1918 in deutscher Gefangenschaft in einer Baumschule bei Berlin und es hat ihm da sehr gut gefallen. Trotz der langen Jahre hat er seine dort erworbenen deutschen Sprachkenntnisse nicht verlernt und hat uns hier als Dolmetscher schon gute Dienste geleistet. Ich als sein Quartiergast ziehe natürlich den meisten nutzen daraus indem ich mich fast jeden Tag in der Dämmerstunde mit ihm unterhalte, und er auch sehr gern erzählt. Dadurch gewinne ich einen sehr guten Einblick in die russischen Verhältnisse, über das Leben, die Arbeit und das Vergnügen unter Stalins Regierung. Und ich wiederum erzähle ihm über das Leben in Deutschland, von der Politik der letzten Jahre, von Adolf Hitler usw. usw. Es ist sehr interessant. Er ist, wie viele hier, ein großer Gegner des bolschewistischen Systems, besonders deshalb, weil er als „alter Mann“, wie er immer sagt, sich noch sehr gut an die zaristische Zeit in Rußland erinnern und Vergleiche mit dem Regime Stalins ziehen kann. Er hat auch einen gesunden Humor, der gute Iwan, und oft müssen wir über seine witzigen Bemerkungen lachen, die er macht. Vorhin z.B. erzählt er sehr anschaulich, wie sie im Frieden im Dorf immer heimlich Schnaps hergestellt haben, was auch in Rußland natürlich streng verboten ist. Aber auch seine Tochter ist nicht dumm. Lediglich durch das viele deutsch-sprechen in ihrem Haus hat sie sich schon eine ganze Menge deutsche Brocken angeeignet und überrascht uns von Zeit zu Zeit immer wieder mit einem neuen Ausdruck oder Satz. Und für die beiden Kleinen bin ich schon lange der „djadinka Paul“ (Onkel Paul) und die kleine Sina kann schon einwandfrei sprechen. „Guten Morgen!“, „guten Tag!“, „gute Nacht“, „Dankeschön“ u. „bitte“, und auf das Stichwort „kleine“ ertönt es wie bei einem Automat: „Micky Maus“! Die Familie ist ausnahmsweise sehr sauber und furchtbar freundlich und zuvorkommend uns gegenüber. Vor allem der Iwan versucht, uns jeden Wunsch von den Augen abzulesen und springt auf seine alten Tage umher wie ein junger, wenn wir ihm etwas auftragen. - Als ich in das Quartier zog, waren wir zu viert, dann zu dritt, schließlich wurde der Gefreite, den der Feldw. u. ich noch mit im Qu. hatten, als „Postsortierter“ nach Rshew befohlen, und als der Feldwebel, der auch mit von der Partie war, zusammen mit mir und dem Hauptfeldw. die Reise antrat, mußten wir uns erst wieder einen anderen, auch einen Gefreiten, ins Haus nehmen, damit jemand da war, der auf unsere Sachen achtgab. Der Feldwebel ist auch nicht mit zurückgefahren, und so bewohne ich zusammen mit dem Gefr., einem meiner beiden Funker, allein das Quartier. Natürlich haben wir jeder ein Bett, wodurch man ohne weiteres auch mal ein Mittagsschläfchen riskieren kann. Höhere Einzelheiten werde ich dann einmal mündlich von mir geben, das ist gleich eine ganz andere Sache wie im Brief. - "
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